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Letzte Änderung am 01.01.2010 13:38:36 English

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"Ahnenkult und Totentaufe"

Im Ahnenforschungszentrum "Family History Library" in Salt Lake City (USA) haben die Mormonen eine riesige Datensammlung angelegt. Selbst die Geburtsregister kleinster Schwarzwaldgemeinden lassen sich dort finden. Doch viele Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche lehnen eine Erfassung ihrer Daten durch die Mormonen mittlerweile ab. In vielen Archiven und Bibliotheken spielt sich derzeit ein stilles Drama ab, das unabsehbare Folgen für die Kultur haben könnte: Der so genannte "Säurefraß" zerstört langsam aber sicher unzählige Bücher und Aktenbestände. Papier wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts größtenteils industriell und unter Beigabe von Säure produziert. Das hat heute zur Folge, dass diese Säure das Papier allmählich zerstört. Schon jetzt sind in vielen Archiven ganze Aktenbestände gesperrt, weil ihre Benutzung den Zerfallsprozess noch beschleunigen würde. Zwar gibt es mittlerweile ein Entsäuerungsverfahren, doch dies ist aufwändig und teuer. Vielen Archiven bleibt deshalb allein die Verfilmung ihrer Bestände als Ausweg. Da aber Länder, Kommunen und Kirchen in Zeiten leerer Kassen dafür weniger Mittel zur Verfügung stellen und die Verfilmungsunternehmen ohnehin völlig überlastet sind, scheint der Kampf gegen den Aktenschwund von vornherein verloren. Warum sich also nicht an die Mormonen, genauer gesagt die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage" (HLT), wenden? Schließlich gründeten die Verantwortlichen der HLT 1894 die "Genealogical Society", deren Mitarbeiter eine Datensammlung gigantischen Ausmaßes anlegten. Zum Zwecke der Ahnenforschung werden Geburts- und Sterberegister ausgeliehen, verfilmt und anschließend dem Besitzer gratis eine Kopie des Films zur Verfügung gestellt. Beispielsweise wurden schon zu Beginn der 70er-Jahre sämtliche Kirchenbücher der Erzdiözese Freiburg verfilmt. Deshalb sind heute im weltgrößten Ahnenforschungszentrum der HLT, der in Salt Lake City ansässigen "Family History Library" und dem mit ihr verbundenen "Family Search Center", selbst die Geburts- und Sterberegister kleinster Schwarzwaldgemeinden zu finden. Ähnliches gilt für die Kirchenbücher der evangelischen Landeskirchen in Baden und Württemberg, deren Bestände allem Anschein nach in den 60er- und 70er-Jahren ebenfalls komplett verfilmt wurden und heute in der Family History Library einsehbar sind. Gehortet werden die Daten außerdem in angeblich atombombensicheren Stollen, die eigens dafür in einem Granitfelsen 32 Kilometer südöstlich von Salt Lake City angelegt wurden.

Historische Kichenregister auf Film gebannt.

Das Verfilmungsunternehmen Mikrofilm-Center im brandenburgischen Kossenblatt hat, nachdem die Firma kurz vor der Insolvenz stand, einen großen Auftrag der "Genealogical Society" bekommen, Kirchenregister aus Ostdeutschland zu verfilmen. "Etwa zweimal im Jahr bekommen wir Besuch von den Mormonen, die sich dann nach dem aktuellen Stand der Dinge erkundigen", so der Firmenprokurist. Offenbar hat das Unternehmen keine Schwierigkeiten, bei den Pfarrämtern an das zu verfilmende Material heranzukommen, zumal man dort froh sein dürfte, dass die Informationen auf diesem Wege erhalten bleiben. Möglicherweise weiß man auch nicht, für wen die Mitarbeiter beim Mikrofilm-Center die Verfilmung vornehmen. Mag sein, dass dies sogar im Sinne der Mormonen ist. Denn zumindest die Verantwortlichen der katholischen Kirche haben die in einigen Bistümern seit 1969 bestehende, vertraglich geregelte Zusammenarbeit mit der "Genealogical Society" aufgekündigt. Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz hat im April 2002 eine "Handreichung zur Verfilmung von Kirchenbüchern durch die Mormonen" verabschiedet, in der es heißt: "Das Angebot der Genealogischen Gesellschaft von Utah auf Sicherungsverfilmung der Kirchenbücher soll künftig nicht mehr wahrgenommen werden. Dies betrifft Neuverfilmungen ebenso wie die Nachverfilmung schadhafter Filmkopien." Auf protestantischer Seite überwog schon früher eine restriktive Praxis. So lehnten nach Angaben des evangelischen Sektenexperten Rüdiger Hauth elf der 18 westdeutschen Landeskirchen zwischen 1947 und 1980 die leihweise Herausgabe der Kirchenbücher zwecks Verfilmung ab, drei Landeskirchen, darunter die badische und die württembergische, stimmten ihr zu, die übrigen vier zogen die Zustimmung zur Verfilmung nach ursprünglicher Einwilligung wieder zurück. Stellvertretertaufe und Ahnenforschung. Ausschlaggebend für die ablehnende Haltung der evangelischen und neuerdings auch der katholischen Kirche dürfte vor allem die religiöse Motivation der HLT sein. Dass deren Mitarbeiter nämlich so unermüdlich genealogische Daten erfassen und speichern, hängt mit ihrem Glaube zusammen. Demzufolge müssen Nicht-Mormonen nachträglich mormonisch getauft werden, um der ganzen Fülle ewigen Heils und der Erlösung im Jenseits teilhaftig zu werden. Zu diesem Zweck lassen sich Mormonen stellvertretend für Verstorbene taufen und wirken somit als eine Art Miterlöser der Toten, bei denen es sich in der Regel um Verwandte der einzelnen Mormonen handeln dürfte. Da dies offenbar jedoch nur funktioniert, wenn man die Namen der Vorfahren kennt, haben die Mormonen eben jene gigantische Ahnenforschung in Gang gesetzt, deren Datensammlung mittlerweile über eine Milliarde Mikrofilme umfassen soll. Diese Daten sind mittlerweile auch via Internet zugänglich. Wer unter den Verstorbenen nun tatsächlich schon posthum zum Mormonen getauft wurde, ist dagegen allein im Ahnenforschungszentrum in Salt Lake City einsehbar. Den Besuchern stehen dort hochmoderne EDV-Arbeitsplätze mit einem speziellen Suchprogramm unentgeltlich zur Verfügung. Gibt man zum Beispiel den Namen "Martin Luther" ein, erhält man folgenden Eintrag: Luther, Martin Geschlecht: männlich Geboren: 10 Nov 1483 Eisleben, Sachsen, Preussen Taufe: 1 Dez 1987 PROVO Begabung: 6 Jan 1988 PROVO Siegelung an Eltern: 6 Jan 1988 PROVO Vater: Hans LUTHER Mutter: Margarete Quelle: Formular von HLT-Mitglied eingereicht. Serie Nr. 8707831, Blatt #: 23, Standortnummer der Quelle: 1396321 Luther: mormonisch, begabt und gesiegelt. Der Reformator wurde also am 1. Dezember 1987 in Provo, einer Nachbarstadt von Salt Lake City, mormonisch getauft - wahrscheinlich auf Initiative jenes HLT-Mitglieds, von dem das Formular eingereicht wurde. Außerdem wurde Luther am 6. Januar 1988 ebenfalls in Provo mit der "Begabung" und der "Siegelung an die Eltern" versehen. Dabei handelt es sich um zwei weitere Rituale: Die "Begabung" besteht darin, dass man für sich selbst oder stellvertretend für Verstorbene "geheime Erkennungsworte und -zeichen" erhält, die beim Weg in den obersten der drei Himmel behilflich sein sollen. Dorthin gelangt nach Auffassung der Mormonen, wer für die Ewigkeit an die Eltern und einen Ehepartner "gesiegelt" wurde. Diese einigermaßen skurril anmutenden Vorstellungen haben dazu geführt, dass nicht nur Luther, sondern auch eine Reihe von Päpsten getauft und an Eltern und Ehepartner "gesiegelt" wurden. Der besonders berüchtigte Papst Alexander VI. (1431-1503) wurde gleich viermal getauft, außerdem wurde ihm eine "Mrs. Pope Alexander III" angetraut. Besonders makaber wurde es, als die Mormonen in ihrem Eifer anfingen, jüdische Holocaust-Opfer zu taufen. Vertreter jüdischer Organisationen protestierten und diese Praxis 1995 wurde eingestellt.

Auch eine Frage des Datenschutzes.

Der mormonische Ahnenkult und die damit verbundene Erfassungswut werfen jedoch noch weitere Probleme auf. Zum einen stellt sich die Frage nach dem Datenschutz, denn es gibt Hinweise darauf, dass die Datensammlung auch schon für andere als genealogische Zwecke zur Verfügung gestellt wurde. So soll das Material zur Durchführung einer medizinischen Studie verwendet worden sein. Aus kirchlicher Sicht am problematischsten dürfte jedoch sein, dass die Datenerhebung in erster Linie zum Zwecke des "spirituellen Kidnapping" betrieben wird, wie es der katholische Theologe Michael Fuss formuliert hat. Sein evangelischer Kollege Werner Thiede hat festgestellt: "Selbst wenn die Mormonen sich in einem Vertrag verpflichten, keine pauschalen Totentaufen anhand der Listen aus den verfilmten Kirchenbüchern zu vollziehen, dürften kirchlich-theologische Bedenken gegen die massenweise 'Auslieferung' der Daten christlich getaufter Verstorbener zum Zwecke der genannten Tempelrituale kaum ausgeräumt werden." Aus einer rein wissenschaftlichen Perspektive ist es zweifellos ebenso verdienstvoll wie faszinierend, was die Mormonen mit Bienenfleiß und unter ungeheurem finanziellen Aufwand betreiben, um genealogische Daten zu erheben und zu sichern. Einige Pfarrer halten denn auch heute noch den Nutzen der Datensicherung für größer als den Schaden durch eine posthume mormonische Taufe. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es nicht etwas beschämend und bedenklich ist, wenn aus purer Geldnot für den Erhalt von Archivmaterial auf die Dienstleistungen einer religiösen Organisation zurückgegriffen werden muss, deren Motivation zumindest diskutabel ist. Den Kirchen und anderen öffentlichen Körperschaften sollte der Erhalt von Kirchenbüchern so viel wert sein, dass er auch in Zeiten knapper Mittel finanziert werden kann.

Quelle: BW-Woche, 29.03.2005, www.bwheute.de